Dirk Kurbjuweit
Tom Gefken habe ich zum ersten Mal in einer Villa auf Elba getroffen. Das war im Frühling 2010. Wir hatten beide ein Stipendium für diesen traumhaften Ort, er als Maler, ich als Schriftsteller. Die Idee war, Künstler verschiedener Richtungen für zwei Wochen zusammenzuführen. Tagsüber sollten sie an ihren Werken arbeiten und sich abends bei einem fürstlichen Dinner über die Kunst und das Leben austauschen. Eine schöne Idee.
Mein Flug hatte ein paar Stunden Verspätung, deshalb kam ich an, als die anderen schon beim Dessert saßen, eine Sängerin aus Rumänien, zwei bildende Künstler aus der Schweiz und Tom aus Bremen. Er fiel mir auf, weil er mich so fröhlich begrüßte, als kennten wir uns schon lange, und dann hat er mir erst einmal einen Weißwein eingeschenkt.
Wenn ich an den folgenden Tagen eine Pause vom Schreiben brauchte, ging ich runter zum Wasser, wo der Arbeitsraum von Tom lag, in einer Grotte. Meistens saß er draußen, direkt am Meer und malte. Wir haben ein bisschen geplaudert, übers Schreiben, Malen, über Fußball, die Liebe, dann ging ich wieder hoch auf mein Zimmer und schrieb weiter an einem Roman über eine deutsche Soldatin in Afghanistan.
Der Zufall wollte es, dass an einem jener Abend das Finale des DFB-Pokals in Deutschland ausgetragen wurde, Bayern München gegen Werder Bremen. Ich bin praktisch seit meiner Geburt Fan der Bayern, für Tom gilt das gleiche mit Werder. Uns drohte also ein explosiver Abend. Ich kann unerträglich sein, wenn die Bayern ein großes Spiel verlieren, und ich wusste nicht, wie das bei Tom ist.
Am Spieltag war ich nervös, ging nicht runter zur Grotte und war wortkarg beim Abendessen. Dann saßen wir vor dem Fernseher, alle außer mir waren für Bremen. Das Spiel endete 4:0 für uns, also für den FC Bayern München. Tom tat das weh, aber er war der fairste Verlierer, den man sich vorstellen kann. Er hat mir gratuliert, er schenkte Wein nach, und danach redeten wir wieder über Kunst wie an allen anderen Abenden. Damals wurde mir klar, dass ich Toms Freund sein möchte.
Zehn Jahre später, zu Weihnachten 2020, bekam ich von ihm ein Päckchen geschickt. Es enthielt einen kleinen Objektkasten, der seither auf meinem Schreibtisch steht. Ein weißer Rahmen aus Holz, hinter Glas eine halbnackte Blondine. Sie steht, mit ein paar Zentimetern Distanz, vor einem Raum, in dem eine Liege zu sehen ist. Am Kopfende scheint eine Decke oder ein Kissen zu liegen. Erst auf den zweiten Blick sieht man erschrocken, dass dies eine Todesliege ist. Man erkennt Gurte, mit denen der Verurteilte fixiert wird. In den USA werden auf solchen Liegen Todesspritzen verabreicht.
Dies ist ein kleines, großes Werk von Tom Gefken, die Blondine leicht verwischt gemalt, die Todesliege mit knappen Bleistiftstrichen gezeichnet. Ich betrachte diese Arbeit beinahe jeden Tag, weil an diesem Schreibtisch all meine Artikel und Bücher entstehen. Wenn ich beim Schreiben innehalte und nachdenke, ruht mein Blick auf der Blondine und der Todesliege, meist nehme ich gar nicht wahr, was ich sehe, weil ich so in Gedanken versunken bin, aber manchmal lasse ich das Werk auf mich wirken.
Was mich immer wieder fasziniert, ist die eigentümliche Spannung, die davon ausgeht. Aus der Ferne wirkt die Liege wie ein schmales Bett. Und im Bett beginnt meistens das Leben, im Bett endet es. Dazwischen liegen die Zeiten des Schlafes und der Liebe. Auch der Schlaf gilt als kleiner Tod, genauso der Orgasmus.
Die Blondine lockt den Betrachter nicht auf die Todesliege, ihre Arme sind verschränkt, trotzdem bringt sie das Element des Eros in dieses Werk. Lässt man sich tief auf diese Gedanken ein, wird die Spannung unerträglich. Hier die Schönheit, der Reiz des Lebens, dort einer der schlimmsten Räume der westlichen Zivilisation.
Gefkens Bilder sind nie so, dass sich eine klare Deutung aufdrängt. Dafür sind sie, zum Glück, zu komplex, zu subtil. Sie öffnen eher Denkräume im Betrachter, Räume mit Schrägen, mit Gruben, mit Türen, die nicht geradewegs in Nebenräume führen, sondern in ineinander verschachtelte Unterräume.
Dann reiße ich mich los und schreibe weiter.
Was mich an Tom am meisten beeindruckt, ist der Wille zur Erneuerung, zur Entwicklung. Er ist kein Künstler, der ankommen kann, ankommen will. Wir sehen uns nicht oft, einmal im Jahr vielleicht, und jedes Mal überrascht er mich mit einer neuen Idee, einem neuen Ansatz, anderen Materialien. Jüngst sind Fotos hinzugekommen, die er verfremdet, übermalt, mit Zeichnungen ergänzt.
Die Detailansicht eines Schiffes: Es ist Nacht, ein Licht brennt grell, eine Reling, eine weiße Kajütenwand, Schiffselektronik, ein Rettungsring. Gefken hat dieses Foto von seinem Atelier im Bremer Hafen aus geschossen. Gerahmt ist es von einer großen schwarzen Fläche. Auf den ersten Blick hat es damit etwas Anheimelndes, ein heller Ort der Hoffnung in schwarzer Nacht. Schaut man genauer hin, sieht man rings um das Foto die Schemen von Menschen, eine Familie offenbar.
Was machen die dort? Warum ziehen sie durch die Nacht? Schon ist das Bild nicht mehr anheimelnd, schon ist es verstörend. Die Reise mit dem Schiff steht für einen extremen Gegensatz unserer Zeit. Da sind die Luxusdampfer für Kreuzfahrten, ein Ort äußerster Entspannung und Dekadenz. Und da sind die Seelenverkäufer, mit denen sich Flüchtlinge aufs Meer wagen, in der Hoffnung auf ein erträgliches Leben. Dafür nehmen sie das Risiko des Todes in Kauf. Tausende Flüchtlinge sind schon im Mittelmeer ertrunken.
Ich denke an diese Menschen, wenn ich Toms Bild betrachte. Die Familie kommt aus der dunklen Nacht eines elenden Lebens und will mit dem Schiff Europas Küste erreichen. Oder sie ist schon ertrunken, vielleicht wegen Überfüllung des Decks von Bord gefallen, und wir sehen die Geister von Toten. So hat man, je nach Stimmung, ein hoffnungsfrohes oder ein trauriges Bild vor sich.
Tom Gefkens Werk entsteht aus der Neugier für unsere Zeit. Er liest eine Menge, er verfolgt die politische Lage intensiv über Zeitungen und Zeitschriften. Ich sehe immer wieder Spuren des aktuellen Geschehens in seinen Arbeiten. Er ist damit auch ein politischer Künstler, aber nicht in einem ideologischen Sinne. Er drängt dem Betrachter weder eine bestimmte Sicht auf die Welt auf, noch nimmt er die Rolle des Kritikers ein. Er schöpft aus seiner Zeit und will, dass wir uns den Fragen unserer Zeit bewusst werden. Wir sollen hinsehen, aber was wir sehen, bleibt uns überlassen.
Was ich in Gefkens Werk vor allem sehe, ist eine Auseinandersetzung mit dem großen Rätsel der Zivilisation: Wie kann etwas, das so gut sein könnte, oft so schrecklich sein? Diese Ratlosigkeit, die ich teile, sehe ich in seinen Bildern intelligent und kunstvoll umgesetzt.
In meinem Schlafzimmer hängt ein großformatiges Ölgemälde von Tom. Auch hier ist der Unterschied vom ersten zum zweiten Blick erheblich. Man sieht eine paradiesische Landschaft, grau-blau-grün grundiert, eine Lagune, Palmen, Pfahlbauten. Man sieht oben den Kopf einer Frau wie auf einem Medaillon. Und man sieht unten einen rosa Streifen, über den sich ein dicker, schwarzer Strich zieht. Wie schön, könnte man denken. Bis man nähertritt und die Hunde erkennt, drei Kampfhunde mit gefletschten Zähnen. Auf dem schwarzen Strich sind nur bei genauem Hinschauen zu erkennen.
Was wollen die Hunde? Das Paradies zerstören? Oder es verteidigen? Meiner kleinen Tochter habe ich gesagt, dass Toms Hunde unseren Schlaf beschützen.
Carsten Ahrens
Fragmente der Erinnerung – Partikelgestöber des Wirklichen.
Zum Werk von Tom Gefken
Ein Pitbull, isoliert auf weißer Fläche, nimmt den Betrachter ins Visier. Eine Pistole wird von einem Jungen frontal auf den Betrachter gerichtet. Eine fallende Figur saust neben dem verschwommenen Szenario eines alltäglichen Wohnblockareals in den Abgrund. Porträts figurieren auf den ornamentalen Feldern der Konvention. Bedeutende Momente des konditionierten Familienlebens fokussieren in pointierten Umrisslinien den Horror genormter Alltäglichkeit. Figuren, die, losgelöst aus ihrer Umgebung, im fragmentarischen Moment das Leben als Wechselspiel zwischen Hoffnung und Verzweiflung beschreiben.
Das künstlerische Werk von Tom Gefken entwirft ein Reich der zeichenhaften Figuration. Auf den assoziativen Schwingen der Erinnerung kreist sein Werk um die geheimnisvolle Frage, auf welchen Wegen sich das, was wir Individualität nennen, herausbildet. Erinnerung spielt in diesem weiten künstlerischen Panorama eine bedeutende, ja entscheidende Rolle; sie war gewissermaßen das Initial am Beginn der künstlerischen Entwicklung Tom Gefkens und ist bis heute der Kern, um den die Werke auf unterschiedlichsten Navigationslinien stetig kreisend sich bewegen.
Blicken wir für einen Moment auf den Beginn zurück. Über Jahre war Tom Gefken in den Arealen privater Erinnerung unterwegs. Neben dem privatimen Fundus des eigenen familiären Gedächtnisses wurde der Künstler auf den Dachböden und in den Kellern, in den Schränken, Koffern, Kisten und Vitrinen aufzulösender Haushalte auf seinen Exkursionen in die Gefilde der Erinnerung seiner Stadt ebenso fündig wie auf Flohmärkten und in antiquarischen Geschäften, in denen jene privaten Erinnerungen enden, die keinen Erben finden. Es waren vornehmlich Fotografien, die berüchtigten Schnappschüsse bedeutender familiärer Ereignisse und Momente, aber auch Objekte, alte Rahmen und Ähnliches, denen die Patina gelebter Geschichte anhaftete, die Gefken im Zuge dieser Recherche zusammentrug. Aus diesem Material fügte sich zusehends sein künstlerisches Vokabular.
Die Kunst der Moderne ist auf den Abraumhalden der industriellen Gesellschaft immer wieder fündig geworden. Die Skulptur des 20. Jahrhunderts beispielsweise verdankt ihre maßgeblichen Entwicklungen dem gefundenen Objekt und dem aufgespürten Fragment, die innerhalb einer zunehmend der ökonomischen Effizienz verpflichteten Alltagswelt ihrer ursprünglichen Aufgaben entledigt waren. Der Schrottplatz, das Sinnbild für das Ausgesonderte, auf dem primären Markt nicht mehr taugliche Objekt, wurde so zum Steinbruch der Imagination der Kunst, aus dem Künstler das Material für die Kunst ihrer Zeit herausschlugen.
Für Tom Gefken wurden die zurückgelassenen Fotografien als Relikte vergangener Lebensgeschichten zu einem solchen Steinbruch. Vornehmlich aus Fotografien der 1940er bis 1970er Jahre schuf er collagierte Bildwerke, Assemblagen, die aus gefundenen Fragmenten bestehen und darüber hinaus vom Künstler bearbeitet wurden. Nicht von ungefähr stand dabei die Zeit der uniformierten Barbarei während des Nazi-Regimes ebenso im Zentrum wie die unmittelbar darauffolgende Zeit des Wiederaufbaus, die gezeichnet war vom ausblendenden Vergessen des Vergangenen. Charakteristisches Zeichen dieser Werke wurde der schwarze Balken, mit dem zumeist die Augen der abgebildeten Personen verhüllt wurden, Signum dafür, dass hier individuelle Geschichte zu einem allgemeinen Zeichen der Zeit verwandelt wurde. Und in der Tat, in unheimlicher Weise gleichen sich die Bilder – die Individuen, die hier doch scheinbar in ihrer ureigenen privaten Sphäre erscheinen, sie wirken wie Muster einer gleichförmig und eindimensional organisierten familiären Szenerie.
Im Zusammenspiel von Malerei und Fotografie werden die Muster unserer Rezeption, insbesondere unser Umgang mit den Erfahrungen des Vergangenen zum thematischen Schwerpunkt. Gefken zeichnet an den blinden Flecken unserer Erinnerung, an der Unmöglichkeit, uns ein Bild anhand von Bildern zu machen, um auf der anderen Seite die Raster der immergleichen Formen, das Uniforme der Erfahrung, die Gleichschaltung des Individuellen deutlich zu machen. Im Zwischenraum dieser Ansätze changieren seine Arbeiten, die Fragen stellen und mögliche Antworten offen lassen. Geheimnisse inszenieren, die unsere Neugier herausfordern. Die Reflexion unseres Blickes schärfen, der Vorsicht im Blick auf Vergangenes Form zu geben.
Die malerische Geste war diesem artistischen Prozess der Genese des Werkes immer schon eingeschrieben. So in der besagten Schwärzung der Augen in Form des berüchtigten schwarzen Balkens, der dem Individuum das erkenntlich Individuelle nimmt, folglich eine Identifizierung störend und gleichsam die Neugier auf die Identifikation des Individuellen beschwörend. Parallel geführt in der Verdeckung der Gesichter mittels farbig gefasster Schablonen, durch die sich konventionelle familiäre Szenen in gespenstische Zusammenkünfte unerkannter Wesen verwandeln. In den präzisen zeichenhaften Eingriffen der malerischen Hand gelingt es Gefken, in den privaten Erinnerungsbildern das erschütternd sich immer wieder Gleichende, das allgemein Gültige und Kollektive im vermeintlich Individuellen herauszustellen.
Seit einigen Jahren schon ist das Rüstzeug des Malers Tom Gefken zur zusehends dominierenden Kraft innerhalb seines Werkes geworden. Die malerische Bravour drängt bestimmend ins Zentrum seiner Arbeit. Malerei ist nun – neben den Assemblagen – zu einer vollkommen eigenständigen Sprache seines Werkes geworden. Und so ist in den vergangenen Jahren neben der collagierenden und installativen Arbeit ein umfangreicher Werkblock entstanden, der allein der Sprache der Malerei vertrauen kann.
Auch in diesen Bildern sehen wir den collagierenden Blick des Künstlers am Werk.
Gefken spielt in seinen Bildern mit unterschiedlichen malerischen Stilformen, und er tut dies mit Bravour. Dem changierenden Farbraum, der im zarten Spiel des claire obscure Figurationen nur als Ahnung, als fragiles Bild flüchtiger Erinnerung aufscheinen lässt, mag sich im nächsten Bild in einen strikten Liniengrund kraftvoll gesetzter Farben verwandeln. Grell und ostentativ gesetzte Pop-Art-Elemente kontrastieren mit lichten Farbräumen, in denen der Sog des Malerischen den Blick in die Tiefe lenkt. Die Dynamik von Gefkens zeichnerischen Setzungen, in deren nervöser Liniatur Bilder erinnerter Momente phantasmagorisch nachzittern, mag sich in einem nächsten Bild als ornamental ziseliertes Netzwerk zeigen, in dessen Gespinst sich der Blick verfängt. Kurzum: Dieser Reichtum des künstlerischen Vokabulars gehört zum Rüstzeug der Malerei Tom Gefkens, die trotz ihrer so unterschiedlichen formalen Strategien eine frappante, gewissermaßen atmosphärische Handschrift entfaltet.
Beide Entwicklungsstränge des Werkes, das Collagierende und das Malerische, entstehen gleichsam parallel, greifen ineinander und werden verzahnt durch große Objektkästen, in denen vorgefundenes Material und malerische Diktion einander balancieren.
Welche Techniken Tom Gefken auch ins Spiel bringt, ihm gelingt die Verdichtung eines Moments der Wirklichkeit, in dem die Bedingungen menschlicher Existenz aufscheinen und spürbar werden. Im Zentrum steht immer das Individuum, seine Geschichte und die Potenziale seiner Zukunft, der Traum von einer anderen Möglichkeitsform. Zeigen die familiären Szenarien die eingrenzenden Rituale, die dem nach Freiheit Drängenden die Luft zu nehmen scheinen, so sind gerade die malerisch dominierten Bilder geprägt von einer figurativen und gestischen Aggression, als wollten sie den Ausbruch aus den Hamsterkäfigen der Konvention beschwören. Beeindruckend ist die atmosphärische Dichte dieser Arbeiten, die aus alltäglichen Motiven den Erfahrungsdruck des Wirklichen ebenso destillieren, wie sie das Hoffnungspanorama einer aus- und aufbrechenden Freiheit mit radikaler Geste ins Bild setzen.
Tom Gefkens Malerei ist in radikaler Weise an der Gegenwart interessiert – und dabei ist mit Blick auf die geheimnisvollen Wege der Individuation die Gegenwart des Vergangenen ebenso präsent und bestimmend wie das Hier und Jetzt des Lebens in unserer Zeit. Wenn in changierend nebelhaften Tönungen der lange Gang zwischen den Regalen eines Supermarktes im Bild zu einer bedrohlich-gespenstischen Allee des gleichgeschalteten Konsums wird, wenn ein isoliert auf der Fläche skizzierter Einkaufswagen zu einem unheimlichen Vehikel mutiert und zu einem beredten Zeichen unserer Zeit wird, dann wird deutlich, wie es hier gelingt, den Blick auf die Realität so im Bild der Malerei zu bannen, dass im Alltäglichen die Dimension der Tiefe, der Raum des Existenziellen, sich eröffnet, um nicht zu sagen – aufbricht. Dass ein Bild der Malerei, mehr über die Wirklichkeit des Lebens auszusagen vermag, als die berühmte Fotografie der Krupp-Werke, das wird hier in Bildern deutlich, die in immer neuen Variationen verdichtete Momente erfahrenen und gesehenen Lebens fassen.
Vilém Flusser, der Exeget des technisch generierten Bildes hat in einer vor diesem Hintergrund überraschenden Einfühlsamkeit über das Geheimnis der Malerei gesprochen. Flusser entfaltet das Bild, dass die Malerei eine Art Schleier, eine Art Fangnetz sei, das der Maler in die Wirklichkeit wirft und an dessen Reusen sich Partikel des Wirklichen verfangen. Es könnte kaum eine bessere Beschreibung für die Operationen geben, die Gefken mit seinen Werken unternimmt. Wir sehen Fragmente des Wirklichen, die mit den Mitteln seiner Malerei in jene Sphäre transponiert werden, in der sie sowohl ihr luzides Geheimnis bewahren als auch in besonderer Weise zu uns zu sprechen und in poetischer Weise zu erzählen beginnen.
Gefken schreibt so mit seiner Kunst auch eine besondere und andere Art der Geschichte, d. h. er zeigt die schreckliche immerwährende Gleichheit menschlicher Zusammenhänge, die unerträgliche Konventionalität des Lebens jenseits, oder auch unterhalb der bahnbrechenden Großereignisse im steten Lauf der Dinge. Sein Werk radiert so – im Blick auf die immer sich neu findende Individualität – an einer Idee des Fortschritts, die unsere Zeit weiterhin dominiert. Denn jenseits allen Fortschritts steht der einzelne Mensch immer wieder vor denselben alten Fragen, wie der Maler immer aufs Neue vor der Leere der weißen Leinwand steht – vor den immergleichen Fragen der menschlichen Existenz, also in den Gezeiten von Leben und Tod, Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Einsamkeit. Dass die Malerei im tiefen Sinne kein Medium des Fortschritts ist, sondern an die Konditionen menschlicher Existenz gebunden ist, davon erzählt das Werk Tom Gefkens in der überbordenden Vielfalt seiner Formen und Formationen in einem großen Gesang, der wie ein ,Fluss ohne Ufer‘ anmutet.
Der Künstler scheint dabei auf genau jenen utopischen Fluchtpunkt zu zielen, den Georg Simmel als „Wunder der Kunst“ beschrieben hat: „So gehört dies überhaupt zu dem unbegreiflich Höchsten aller Kunst, dass sie die Wertreihen, die im Leben gleichgültig, fremd oder feindlich auseinander liegen, wie in selbstverständlicher Einheit zusammenführt… und uns damit eine Ahnung und ein Pfand gibt, dass die Elemente des Lebens doch wohl in ihrem letzten Grunde nicht so heillos gleichgültig und beziehungslos nebeneinander liegen wie das Leben selbst es glauben machen will.“
Ingo Clauß
Das Gedächtnis der Bilder
Gedanken zum Werk von Tom Gefken
Jeder von uns hat seine eigene Geschichte. Die verschlungenen Pfade, die wir in unserem Leben zurücklegen wie auch die vielen Möglichkeiten, die wir ausgeschlagen haben, schreiben sich unentwegt in unsere Biografie ein. Mit der Zeit werden die Erfahrungen und Erlebnisse, die uns noch heute wichtig erscheinen, die uns geprägt haben und nicht vergessen wurden, in Geschichten aufgehoben – Geschichten, die wir uns einander erzählen können. Nicht zufällig lautet der Titel von Gabriel García Márquez’ literarischer Biografie „Leben, um davon zu erzählen“. Für den kolumbianischen Autor ist Leben all das, was wir erinnern, unabhängig davon, ob wir es real erlebt oder nur ersonnen haben. Die meisten unserer Erinnerungen bringen wir indes nicht zu Papier. Sie sind in der Regel frei an bestimmte Orte, Personen oder Gegenstände geknüpft. Eine erneute Begegnung mit ihnen kann nach vielen Jahren ganz unerwartete Folgen haben. Welche Prozesse allein der flüchtige Geschmack einer „Madeleine“ auszulösen vermag, hat Marcel Proust eindrucksvoll in seinem mehrteiligen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ entfaltet. Auch Postkarten, Kleidungsstücke, Fotografien, Dokumente aller Art haben die Fähigkeit, vergessen geglaubte Momente wieder ins Bewusstsein zu rufen. Doch was geschieht mit diesen Erinnerungssplittern, wenn sie mit den Jahren verloren gehen? Einige werden zum Teil achtlos weggeworfen, andere fristen ihr Dasein auf Dachböden oder finden ihren Weg auf Flohmärkte. Dort gelangen sie mitunter in die Hände von Tom Gefken.
Für den Bremer Künstler haben solche Fundstücke eine ganz besondere Bedeutung. Sie sind für ihn sowohl Material als auch Inspirationsquelle und nicht selten steht am Anfang einer neuen Arbeit eine unscheinbare, vergilbte Fotografie. Tom Gefken begibt sich allerdings nicht systematisch auf die Suche nach alten Hinterlassenschaften. Er ist kein Archivar oder Sammler, der die Dinge nach festgelegten Kriterien aufspürt, systematisiert und in eine bestimmte Ordnung überführt. Sein Zugriff ist persönlich, direkt und assoziativ. So erstaunt es nicht, dass sein Werk die unterschiedlichsten Ausformungen kennt. Neben großformatigen Gemälden schafft er kleinere Bildfolgen, Materialcollagen und auch Objektkästen, in denen er unmittelbar auf die einzelnen Fundstücke und ihre Geschichten reagiert. Subjektive Aneignung, kritische Auseinandersetzung und künstlerische Umgestaltung stecken dabei das Feld ab, in dem er sich seit mehr als 20 Jahren bewegt.Für eine erste Begegnung mit dem Werk von Tom Gefken lohnt es sich, den Blick auf eine Collage aus dem Jahre 2007 zu richten Auf dem kleinen Blatt kleben zwei Schwarz-Weiß-Fotografien älteren Datums. Die untere zeigt ein Hochhaus, vor dem einige, aus heutiger Sicht historische Autos zu sehen sind. Darüber findet sich das Porträt einer Frau, das mit Klebeband etwas nachlässig befestigt wurde. Die Frisur, die geblümte Bluse mit gesteiftem Kragen lassen vermuten, dass das Bild bereits in den 1950er Jahren entstanden ist. Für sich genommen sind die beiden Fotos kaum mehr als stumme Zeitzeugen unbekannter Herkunft. Allein durch ihre Kombination werden sie in eine Erzählung eingebunden, die sich unwillkürlich zwischen ihnen entspinnt. Bemerkenswert ist der reduzierte Einsatz der künstlerischen Mittel. Mit wenigen Strichen wurden die Augen der Frau geschwärzt. Diese rabiate Form der Anonymisierung fordert Fragen und Vermutungen regelrecht heraus. Wer könnte die Person sein? Hat sie in dem Haus gewohnt? Ist sie vielleicht eine Angeklagte oder gar ein Todesopfer, dessen Identität öffentlich geschützt werden soll? Tom Gefken interessiert sich für die komplexen Mechanismen, mit denen wir Bildern Bedeutungen zuweisen. Es geht ihm dabei nicht um ein freies Spiel, in dem alles mit allem beliebig kombinierbar ist. Sorgsam spürt er dem Gedächtnis der Bilder nach, sucht nach einer inneren Verwandtschaft, die mehr ist als ein bloßer Abgleich formal-ästhetischer Analogien. Beispielhaft lässt sich dies an der kleinen Collage ablesen. Gefken fügt hier die Bruchstücke individueller Erinnerungen zu einem neuen Bild zusammen, das in der Lage ist, je nach kulturellem Umfeld subjektive Empfindungen und Deutungen zu stimulieren. Dies zeugt von einer künstlerischen Haltung, die die Assoziationskraft und die Denkbewegungen des Betrachters ernst nimmt, sie letztlich zu einem integralen Bestandteil der Arbeit werden lässt.
Ähnlich verhält es sich mit der Serie Sweet Home, Sweet Holidays Wie der Titel bereits andeutet, handelt es sich um Fotografien einer vermeintlich „guten alten Zeit“. Darunter befinden sich Urlaubsbilder, ein als Cowboy verkleideter Junge, Fotos einer Weihnachtsfeier, aber auch Schnappschüsse von Freunden und Verwandten. Die Rekonstruktion vergangener Alltäglichkeit anhand von Bildern ist eine wichtige Stütze im Familiengedächtnis. Bei Gefken verschwinden jedoch die abgebildeten Personen unter passgenau ausgeschnittenen Pappen. Allein ihre Silhouette bleibt wie ein flüchtiger Schatten erkennbar, auf der skizzenhaft die Physiognomie und die Konturen der Kleidung angedeutet sind. Fototheoretische Überlegungen, die uns spätestens seit Roland Barthes vertraut sind, finden hier eine künstlerische Entsprechung. Der französische Philosoph war davon überzeugt, dass in einem Porträt immer schon das Moment der Vergänglichkeit eingeschrieben ist, fixiert es doch einen kurzen Augenblick, der über den Tod hinaus unveränderlich bleibt. Diesem Gedanken folgend bezeugt das fotografische Abbild nicht die Präsenz, sondern vielmehr die Abwesenheit eines Menschen. Diesen Verlust macht Gefken sichtbar. Mit Übermalungen und Abtrennungen erzeugt er – wie in seinem gesamten Werk – Leerstellen und Freiräume. Auf diese Weise werden die Fotos aus ihrer individuellen Geschichte herausgelöst und ins Allgemeine gekehrt. Und tatsächlich kommen uns die „süßen Erinnerungen“ vertraut vor. Familienbilder entstehen nach stereotypen, sich permanent wiederholenden Mustern. Sie haben einen so hohen Wiedererkennungswert, dass wir uns in ihnen sprichwörtlich zu Hause fühlen. Die Begegnung mit dem Fremden wird letztlich zu einer Begegnung mit unserer eigenen Geschichte. Auf eindringliche Weise zeigt sich hier, wie nachhaltig persönliches Erinnern, Zeitgenossenschaft und kulturelle Prägung ineinander spielen. Diese Zusammenhänge entsprechen in ihren Grundzügen der Idee einer „mémoire collective“ (Maurice Halbwachs), die in den 1990er Jahren von den Kulturwissenschaftlern Jan und Aleida Assmann zu einer Theorie des kollektiven Gedächtnisses ausgeweitet wurde. Vergangenheit steht nach Jan Assmann „nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung“. Erinnerungen auch der persönlichsten Art entstehen demzufolge in der sozialen Interaktion mit anderen. Sie sind immer etwas Gemachtes, etwas, das erst im Rückgriff aus der Gegenwart (re-)konstruiert werden muss. Aus diesem Wissen heraus schafft Gefken Erinnerungsbilder, in denen die vielschichtigen Prozesse des Erinnerns und Vergessens immer schon Bestandteil sind. Das Spannungsfeld von individuellem und kollektivem Gedächtnis wird so zum wesentlichen Antrieb seiner Kunst .
Auch in der Malerei arbeitet Tom Gefken nach fotografischen Vorlagen. In ihr verdichtet sich sein künstlerischer Ansatz zu Bildwerken ungewöhnlicher Intensität. Ob Fundstücke, Pressebilder oder private Aufnahmen der Familie, er folgt bei seiner Motivwahl keinen bestimmten Vorlieben. Alles, was ihn innerlich berührt oder als Bild fasziniert, wird Teil seines malerischen Œuvres. Dies können die Regale in einem Supermarkt sein, Tätowierungen, die Luftaufnahme einer Häuserzeile oder sein Sohn, der mit einem Gartenschlauch Wasser verspritzt. Das Private und Öffentliche, das Banale und das emotional aufgeladene Andenken stehen hier gleichberechtigt nebeneinander. So vielfältig wie die diversen Vor-Bilder sind, so unterschiedlich sind auch die malerischen Strategien, die Gefken mit Bravour einsetzt. Auffällig sind Bezugnahmen auf die Ästhetik der Pop-Art. An anderer Stelle werden die Bilder mit einer Art „Weichzeichnereffekt“ überzogen, wie wir ihn von Gerhard Richter kennen. Die großformatige Leinwand Tattoo zeigt beispielsweise eine Bank, wie sie in Amerika für Hinrichtungen verwendet wird. Nur zaghaft und verschwommen entsteht die düstere Situation vor unserem Auge. Das Bild, das sich in unserem kollektiven Gedächtnis längst festgesetzt hat, scheint sich hier unserer Wahrnehmung entziehen zu wollen. Und dennoch lassen sich die Schrecken und Ängste, die sich mit diesem Ort verbinden, unmittelbar nachempfinden. Über das Bild hat Gefken mit wenigen kraftvollen Pinselstrichen die Umrisse einer Frau gemalt. Allein das Tattoo auf dem Arm ist detailreich ausgearbeitet. Was im Hintergrund mit großer malerischer Präzision zur Darstellung gelangt, wird hier durch den Status des Unfertigen konterkariert. Das Bild Kid 1 (2007, Abb. 39) ist wesentlich plakativer und direkter „in Szene gesetzt“. Hier nimmt uns ein kleiner Junge unmittelbar ins Visier. Ein Kinderspiel? Der dramatische Höhepunkt einer Filmszene? Oder das erschütternde Bild aus einem der weltweiten Krisenherde? Auch wenn die beiden Gemälde auf den ersten Blick unterschiedlich erscheinen, liegt ihnen eine innere Konsequenz zu Grunde, die sie zu verschiedenen Aspekten einer größeren Erzählung machen. Politik und Popkultur wirken Tag für Tag auf unser Privatleben ein. Im Falle von Tattoo scheint sich das Weltgeschehen regelrecht in die Haut einzuschreiben. Der vermeintliche Stilbruch wird hier zum Prinzip erhoben. Jedes Bild ist ein neues Wagnis, das sich erst aus einer Annährung an die jeweilige Vorlage entwickelt. Es verwundert daher nicht, dass viele Gemälde über einen langen Zeitraum entstehen. Schicht für Schicht werden sie aufgebaut. Dabei unterliegen sie einem steten Verwandlungsprozess, in dem jedes Mal das/der(?) Moment des Scheiterns einkalkuliert ist.
In den letzten Jahren sind vermehrt Objektkästen entstanden. Sie geben dem gesamten Werk eine neue Dimension. Sie funktionieren wie Bildspeicher, in denen Malerei, Gegenstände, alte Tapeten und Fotografien versammelt sind. In gewisser Hinsicht stellen sie einen Kristallisationspunkt dar, in dem sich viele Aspekte des gesamten Œeuvres zu einer Art privater Archäologie zusammenfügen. Der aufmerksame Betrachter ist eingeladen, die präzise kombinierten Objekte miteinander in Beziehung zu setzen. Da ihr Arrangement eine offene semantische Struktur hat, sind assoziativ sprunghafte Zugänge jederzeit möglich. Damit entsprechen sie auf künstlerischer Ebene unseren Erinnerungsmechanismen, die nicht geradlinig, sondern stets unkontrolliert und unbewusst ablaufen. Ninja zeigt beispielsweise die Silhouette von Gefkens Sohn. Umgeben ist er von drei gerahmten Fotos. Auch hier sind – wie so oft – die Köpfe ausgeschnitten oder – wie im Falle des Hochzeitpaares – die Augen ausgestrichen worden. Der lebensgroße Körper in der Mitte wurde orange übermalt und mit einem neuen Augenpaar ausstaffiert. Was immer diese Zeichen für Gefken selbst bedeuten, er macht sie zum Teil seiner Kunst, in die immer wieder Teile seiner eigenen Biografie einfließen. Auf diese Weise entsteht mit den Mitteln der Kunst eine komplexe Erzählung mit offenem Ausgang. Gespannt erwarten wir die nächsten Kapitel.
Volker Rapsch
Latenz – Über das Bildliche bei Tom Gefken.
Ein Streiflicht.
I.
Seine künstlerische Tätigkeit ist darauf angelegt, den Betrachter in eine ästhetische Aufmerksamkeit zu verstricken. Auf diese Weise installiert er by the way eine Schule der Wahrnehmung. Wir Menschen sind zwar durchaus in der Lage zu sehen ohne zu denken. Das Öffnen, das Entschlüsseln, das „Hineinsehen“ ins Werk jedoch ist immer ein Sehen mit Denken.
II.
Das zum Teil Verborgene, das nicht unmittelbar Fassbare, das nicht gleich Erkennbare, das der Möglichkeit nach Vorhandene, das Mehrschichtige und Vielschichtige, all das ist ein Leitmotiv der ästhetischen Praxis von Tom Gefken. Er realisiert es auf unterschiedliche Weise. Man führe sich seine auch diesbezüglich bemerkenswerten Ölbilder „Scheune“ (2021) oder „Kleinkind“ (2021) oder „Kopf“ 2021), Bilder der Serie „Kino“ (Zusammenhänge schaffen, das Serielle ist durchaus ebenso eines seiner Leitmotive) vor Augen, ebenso das besonders eindringliche, sozusagen paradigmatische Fotobild „Plakatwand“ (2021). Was sich in diesem grob äußert, offenbart sich subtiler in seiner Malerei. Grundsätzlich ist „Plakatwand“ kein wirklich neues, originelles Bild. Es steht zwar in einer Tradition, hat sich aber von dieser insofern gelöst, als es infolge ästhetischer Aufarbeitung mit Hilfe technologischer Mittel zur Steigerung der Ausdrucksmöglichkeiten den Effekt betont und keine konkrete Botschaft mehr verkörpert, wie das vor Jahren, gar Jahrzehnten noch der Fall gewesen ist.
Ich denke an Raymond Hains „Avec le grand concours de l’humanité et de la nation franҫaise“ (1956) oder, bereits weniger demonstrativ, an Jacques Villeglé, z. B. an seine Boulevard-Serie (1959) und spätere Arbeiten. Die eine Serie bildenden vier Portraitölbilder „M1“, „M2“, M3“und „M4“ (sämtlich 2020) mögen ebenfalls in diesem Kontext stehen. Sie reflektieren eine dominierende Form des Sehens, nämlich die des Fotografen, überstreichen diese aber radikal mit Hilfe einer nonchalanten Geste der Aufschichtung – eine ungewöhnliche Präsentation der Verschränkung von Fotografie mit Malerei. Tom Gefken ist Nebenbeifotograf. Das muss für einen Künstler nicht von Nachteil sein.
Marginalie 1
Musik- und Lebensmittelautomaten, Zigaretten- und Fahrscheinautomaten – das Automatenwesen hat seinen Siegeszug angetreten. Die Krönung des Selbsttätigkeitsprinzips ist freilich der fotografierende Automat. Im gleichsam durchautomatisierten Berlin wurde eine fotografische Jubiläumsausstellung an demselben Tage, an welchem vor einem Halbjahrhundert Daguerre im Palais Mazarin zu Paris die erste öffentliche Mitteilung von seiner Entdeckung gemacht hatte, eröffnet – und zwar in den Räumen der Kriegsakademie. In Potsdam hingegen ist unlängst und vielleicht nicht völlig unerwartet ein Kunstautomat gesichtet worden. Fotografische Apparate sind im Gegensatz zu vielen anderen Apparaten, beispielsweise im Gegensatz zum Militärapparat (die Frage nach dem Kulturapparat sei hier direkt vernachlässigt), in erster Linie für das Vergnügen, zur reinen Zeitvergeudung, eben für oberflächliche, womöglich an der Oberfläche engagierte Dilettanten gemacht. Nur, und das annoncierte bereits damals die Berliner Firma Joh. Sachs & Co., sind Fotoapparate „Kein Spielzeug“. Während die Dilettanten das begriffen haben, erliegen die Professionellen den Verlockungen.
III.
Eine Vermutung drängt sich auf, nämlich dass die meisten seiner fotografischen Arbeiten Probleme zu beseitigen scheinen. Gefken verarbeitet Vorgefundenes, er recycelt Fotografien, zum überwiegenden Teil entstanden in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bewahrt sie vor der Tonne, reißt sie aus ihrem Kontext heraus, arrangiert sie neu, verfremdet sie, kombiniert sie mit eigener Malerei und versucht auf diese Weise, die alte Frage, ob eine Fotografie das sagt, was sie zeigt, oder das, was der Betrachter sieht, auf durchaus originelle Weise zu beantworten. Nur auf den ersten Blick nähert er sich dabei dem Kitsch, lässt er das Vergangene in der Gegenwart heimisch werden. Kunst läuft immer Gefahr, Kitsch zu werden. Der Philosoph Vilém Flusser definiert Kitsch als recycelten Abfall. Für andere ist das Produzieren von Abfall die bedeutendste Form der Schöpfung heute. Zweifellos lässt sich ohne größere Schwierigkeiten die Welt mit Produkten vollstellen, auch mit Kunst und nicht zuletzt mit Gegenständen, die vorgeben, Kunst zu sein. Besondere Fähigkeiten sind gefragt, wenn es darum geht, den Kram wieder aus der Welt hinauszubringen.
Die Museen, „die Müllabfuhr der Kunst“ (Bazon Brock), platzen aus allen Nähten. Immer mehr sammelt sich an, wir wissen kaum wohin mit dem Gerümpel. Wer heute noch die Leinwand bevorzugt und diese mit Farbe beschwert, lässt die aus solcherart Immobilien bestehende Bilderflut immer weiter anschwellen und sollte gute Gründe vorzeigen können, welche dieses sein Tun gutheißen. Neben seinen guten Gründen, die er nachweislich hat, geht Gefken diesem Thema ein wenig aus dem Weg, indem er auch seine eigenen Bilder recycelt: Er übermalt ein Motiv mit einem neuen nicht nur einmal, meistens mehrfach und in aller Regel ungeplant.
IV.
Auf den zweiten Blick sind Tom Gefkens Arbeiten alles andere als ein Angebot, im Angesunkenen sich gemütlich einzurichten. Das rettet sie vor einer Inventarnummer: Insoweit er seine Themen der Lebenswelt entnimmt, was meistens der Fall ist, steht seine Kunst im Leben. Das wird beispielsweise deutlich in der Wandinstallation „Wohnwagen 2“ (2003/04) und auch in der „So far from me“ (2018) benamten, wobei es sich um eine Variante des bereits andernorts präsentierten Werks handelt. Hier spiegelt sich im kleinen Rahmen menschliche Geschichte wider, kommt ein erzählerisches Moment ins Spiel. Hier zeigt sich, dass nahezu alles und jedes zum Gegenstand sowohl des Nachdenkens als auch der beschaulichen, intensiven ästhetischen Auseinandersetzung werden kann, und hier zeigt< sich allerdings auch, was ein Kunstwerk von einem beliebigen Objekt, welches der Anschauung sich andient, unterscheidet. Den Kreislauf des Lebens und die Erneuerung desselben macht er mit dem Objektkasten „Love“ (2016) zum Thema.
Ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Arbeit
„Nacht II“ (2021), bei der eine vom Künstler gefertigte Fotografie im Vordergrund steht.
Wie fast alle seine Bilder, auch die gemalten, ist auch dieses Fotowerk kein reines Bild, es stellt freilich einen Bezug zur äußeren Realität her. Und es bringt mehr Licht ins Dunkel, als eine bloße Ablichtung der sogenannten Wirklichkeit zu leisten imstande ist. Wer ein Bild wie dieses erfahren möchte, tastet es mit den Augen ab und gewinnt einen Eindruck auf Raten. Gefken ist ein Meister des von vornherein Nicht-Offenkundigen. Zunächst erliegt man dem Glanz, gleichsam dem blendenden Augenschein bekannter, vertrauter, angenehmer Dinge, die einen blind machen könnten für das Dahinterliegende. Das Künstlerische ist nicht zuvorderst etwa das Hervorrufen von Phantasiebildern beim Betrachter, sondern ist gegebenenfalls ein erstmal etwas unbequemer, weil neuer Vorschlag für Erleben, für das Hervorbringen von Sichtbarkeiten, nicht zuletzt und womöglich zuallererst das Hervorbringen von möglichen Sichtbarkeiten. In diesem Zusammenhang gewinnen die zunächst im Blickfeld stehenden vertrauten Dinge an Bedeutung, sie verleihen dem sehenden Auge einen Halt für Entdeckungen, für den Durchbruch in die Tiefe, für die Durchdringung von Bildebenen. In manchen seiner Bilder kann Tom Gefken womöglich noch entdecken, was er selbst hineingebracht hat.
Marginalie 2
Auch dieser Text teilt das Schicksal der allermeisten Auslassungen in einem Kontext wie diesem. Wo bleibt der Verriss?
V.
Weil uns nicht nur unser eigenes Leben zugänglich ist, sondern auch viele andere Leben unseres Umfeldes in gewisser Weise vertraut sind (wir kommen aus dem Gleichen, hören das Gleiche im Radio, sehen das Gleiche im Fernsehen, lesen die gleichen Zeitungen usf.), öffnen sich uns die Erinnerungen dieser unserer Kultur, wir verharren nicht nur in der eigenen. Wir schöpfen aus kollektiver Erinnerung. Vor diesem Hintergrund ist es allemal erstrebenswert, den Langmut und das Interesse aufzubringen, sich viele seiner Bilder anzuschauen. Wer sich einlässt, wird irgendwann feststellen, dass ihm einige besser gefallen als andere, klar, und mit der Zeit dahinterkommen, was den Künstler bewegt. Ein Künstler, der sich selbst nicht zum Thema macht, und sei es nur beiläufig, der nicht über sich selbst in seinen Arbeiten spricht, und sei es nur in Andeutungen, hat im Grunde wenig, vielleicht sogar nichts zu sagen.
Man kann durchaus fragen, ob hinter einem Bild überhaupt etwas steht, das mitgeteilt werden muss. Hier jedoch teilt sich Gefkens biografischer Hintergrund auf durchaus unterschiedliche Weise und mal mehr, mal weniger deutlich im Werk mit: in seinen Wandinstallationen, in seinen Objektkästen – „Scarry“ (2016) beispielsweise – und mit bildnerischer Wucht in dem vergleichsweise großformatigen Ölgemälde „Boy“, welches bereits heute vor zehn Jahren entstanden ist. Sein Sohn hockte ihm Modell. Auf eine kleine Entdeckungsreise begibt sich, das sei am Rande erwähnt, wer gerade dieses Bild aus diversen Perspektiven und in kontrastierendem Licht in Augenschein nimmt. Die Welt ist vollgehängt mit Arbeiten, die zu groß sind für die Ideen und Einfälle, Gedanken und Erkenntnisse, die sie enthalten. Bei Gefkens eingedenk seines Werkes als vergleichsweise großformatig zu bezeichnendem Bild „Boy“ verhält es sich eher umgekehrt.
VI.
Anders als eine Designer-Liege, die bereits einen Bezug auf einen Raum enthält, auf den sie sozusagen Wirkung ausübt, auch wenn sie noch im Einrichtungsgeschäft sich befindet, haben Kunstwerke keinen wirklich direkten Bezug zum praktischen Leben. Und wenn sie< ihn haben, womöglich in emanzipatorischer Absicht, ist ihre Wirkung begrenzt und verlieren die Arbeiten ihre Identität als Kunst: ein an die Museumswand genagelter Eierkarton hört auf Kunst zu sein, sobald er seiner eigentlichen Bestimmung zurückgeführt wird. Freilich, Kunstwerke unterliegen gelegentlich wie die Mode der Kleidung oder der Inneneinrichtung einem sich wandelnden Zeitgeschmack. Immer aber sind Kunstwerke wie auch Designobjekte von dieser Welt, aber anders als diese, in aller Regel mit praktischem Gebrauchswert ausgestattet, beziehen sich jene nicht in erster Linie auf etwas in der Welt, dienen nicht unmittelbar ihrer Ausstattung, vielmehr vergegenwärtigen sie, bei aller Gegenständlichkeit im Einzelfall, geronnene Kommunikation. Dafür bedarf es keiner Begründung.
Es gibt durchaus Künstler, die künstlich sich anpassen, die den Geschmack der Massen bedienen, und es gibt andere, die zwei oder drei schwache Ideen in einen primitiven Gedanken fassen und bildnerisch möglichst kompliziert und unverständlich inszenieren. Gefkens Bilder sind ein mit Bedacht vorgetragenes echtes Angebot an den Betrachter. Stößt der Blick des Betrachters auf die Sichtweise des Künstlers, entsteht ein Zwiegespräch, werden die Möglichkeiten für ein Neues, die sich im Dialog eröffnen, nachgerade unvermeidlich. Gefkens „Licht“ (2021) macht die sich hier entfaltende überaus anregende Kraft spürbar. Rätselhaftigkeit und Verunsicherung vermengen sich mit Schrecken und Schmerz. Und doch ist die Deutung völlig frei. Eine gewisse Hinwendung zum Wort, die sich hier äußert, kommt in mehreren, wenn nicht sogar in den meisten Werken zum Ausdruck. Sie bewirkt ein Spannungsverhältnis zwischen (Bild-)Sprache und (Text-)Inhalt. Freilich läßt Tom Gefken Text und Bild nicht, jedenfalls nicht offensichtlich, einander verstärkend zusammenspielen, wie das in der Reklame der Fall ist oder in anderer, ganz besonderer Weise etwa bei Malewitsch.
Zweifelsohne gibt es Bilder, auf denen es nicht mehr zu sehen gibt, als zu sehen ist. Da hilft kein Blick in ohnehin nicht vorhandene, gern unermessliche Tiefe und auch kein pseudo-philosophisches Geraune umzu. Was in der Vergangenheit als beinahe unabdingbar galt, dass Kunst ausgesprochen anstrengend sein muss, dass sie etwas nur für Intellektuelle sein kann, dass sie über alle Maßen mühsam zu sein hat, ist heute kein Qualitätsmerkmal mehr. Verschiedene Arbeiten Gefkens verlangen zwar den Blick in die Bildtiefe seiner Bilder hinein. Werden sie so angenommen, sind einige seiner Bilder ein bisschen sperrig, letztlich aber immer zugänglich, auch vergnüglich – sie sind im besten Sinne populär und kommunikativ, indem sie sich dem Dialog mit dem Betrachter öffnen.
VII.
Ein Kunstwerk verlangt nach Fortsetzung, das gilt für die Literatur wie für die bildende Kunst. Der weiter oben bereits erwähnte Vilém Flusser wollte seinen großartigen Essay „Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?“ (1987) ursprünglich ohne Punkt enden lassen und< >empfahl deshalb die digitale Version seines Buches (seinerzeit auf floppy disk), welche Möglichkeiten des Um- und Weiterschreibens eröffnete. Kunst will sich fortschreiben. Ohne Folgen kann das nicht bleiben. Vor Gefkens „Vaddy hat Angst vorm Fliegen“ (2021) stehend vermenge ich Erlebtes und Gedachtes, Vergessenes und Geplantes, Träume und Traumatisches, kommt mir zu Bewusstsein, was zuvor längst nicht mehr mental verfügbar gewesen ist. Das schafft neue Probleme. Ist es das?
Volker Rapsch
entrepreneur en démolition