Das Gedächtnis der Bilder
Gedanken zum Werk von Tom Gefken
Ingo Clauß
Jeder von uns hat seine eigene Geschichte. Die verschlungenen Pfade, die wir in unserem Leben zurücklegen wie auch die vielen Möglichkeiten, die wir ausgeschlagen haben, schreiben sich unentwegt in unsere Biografie ein. Mit der Zeit werden die Erfahrungen und Erlebnisse, die uns noch heute wichtig erscheinen, die uns geprägt haben und nicht vergessen wurden, in Geschichten aufgehoben – Geschichten, die wir uns einander erzählen können. Nicht zufällig lautet der Titel von Gabriel García Márquez’ literarischer Biografie „Leben, um davon zu erzählen“. Für den kolumbianischen Autor ist Leben all das, was wir erinnern, unabhängig davon, ob wir es real erlebt oder nur ersonnen haben. Die meisten unserer Erinnerungen bringen wir indes nicht zu Papier. Sie sind in der Regel frei an bestimmte Orte, Personen oder Gegenstände geknüpft. Eine erneute Begegnung mit ihnen kann nach vielen Jahren ganz unerwartete Folgen haben. Welche Prozesse allein der flüchtige Geschmack einer „Madeleine“ auszulösen vermag, hat Marcel Proust eindrucksvoll in seinem mehrteiligen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ entfaltet. Auch Postkarten, Kleidungsstücke, Fotografien, Dokumente aller Art haben die Fähigkeit, vergessen geglaubte Momente wieder ins Bewusstsein zu rufen. Doch was geschieht mit diesen Erinnerungssplittern, wenn sie mit den Jahren verloren gehen? Einige werden zum Teil achtlos weggeworfen, andere fristen ihr Dasein auf Dachböden oder finden ihren Weg auf Flohmärkte. Dort gelangen sie mitunter in die Hände von Tom Gefken. Für den Bremer Künstler haben solche Fundstücke eine ganz besondere Bedeutung. Sie sind für ihn sowohl Material als auch Inspirationsquelle und nicht selten steht am Anfang einer neuen Arbeit eine unscheinbare, vergilbte Fotografie. Tom Gefken begibt sich allerdings nicht systematisch auf die Suche nach alten Hinterlassenschaften. Er ist kein Archivar oder Sammler, der die Dinge nach festgelegten Kriterien aufspürt, systematisiert und in eine bestimmte Ordnung überführt. Sein Zugriff ist persönlich, direkt und assoziativ. So erstaunt es nicht, dass sein Werk die unterschiedlichsten Ausformungen kennt. Neben großformatigen Gemälden schafft er kleinere Bildfolgen, Materialcollagen und auch Objektkästen, in denen er unmittelbar auf die einzelnen Fundstücke und ihre Geschichten reagiert. Subjektive Aneignung, kritische Auseinandersetzung und künstlerische Umgestaltung stecken dabei das Feld ab, in dem er sich seit mehr als 20 Jahren bewegt.Für eine erste Begegnung mit dem Werk von Tom Gefken lohnt es sich, den Blick auf eine Collage aus dem Jahre 2007 zu richten Auf dem kleinen Blatt kleben zwei Schwarz-Weiß-Fotografien älteren Datums. Die untere zeigt ein Hochhaus, vor dem einige, aus heutiger Sicht historische Autos zu sehen sind. Darüber findet sich das Porträt einer Frau, das mit Klebeband etwas nachlässig befestigt wurde. Die Frisur, die geblümte Bluse mit gesteiftem Kragen lassen vermuten, dass das Bild bereits in den 1950er Jahren entstanden ist. Für sich genommen sind die beiden Fotos kaum mehr als stumme Zeitzeugen unbekannter Herkunft. Allein durch ihre Kombination werden sie in eine Erzählung eingebunden, die sich unwillkürlich zwischen ihnen entspinnt. Bemerkenswert ist der reduzierte Einsatz der künstlerischen Mittel. Mit wenigen Strichen wurden die Augen der Frau geschwärzt. Diese rabiate Form der Anonymisierung fordert Fragen und Vermutungen regelrecht heraus. Wer könnte die Person sein? Hat sie in dem Haus gewohnt? Ist sie vielleicht eine Angeklagte oder gar ein Todesopfer, dessen Identität öffentlich geschützt werden soll? Tom Gefken interessiert sich für die komplexen Mechanismen, mit denen wir Bildern Bedeutungen zuweisen. Es geht ihm dabei nicht um ein freies Spiel, in dem alles mit allem beliebig kombinierbar ist. Sorgsam spürt er dem Gedächtnis der Bilder nach, sucht nach einer inneren Verwandtschaft, die mehr ist als ein bloßer Abgleich formal-ästhetischer Analogien. Beispielhaft lässt sich dies an der kleinen Collage ablesen. Gefken fügt hier die Bruchstücke individueller Erinnerungen zu einem neuen Bild zusammen, das in der Lage ist, je nach kulturellem Umfeld subjektive Empfindungen und Deutungen zu stimulieren. Dies zeugt von einer künstlerischen Haltung, die die Assoziationskraft und die Denkbewegungen des Betrachters ernst nimmt, sie letztlich zu einem integralen Bestandteil der Arbeit werden lässt. Ähnlich verhält es sich mit der Serie Sweet Home, Sweet Holidays Wie der Titel bereits andeutet, handelt es sich um Fotografien einer vermeintlich „guten alten Zeit“. Darunter befinden sich Urlaubsbilder, ein als Cowboy verkleideter Junge, Fotos einer Weihnachtsfeier, aber auch Schnappschüsse von Freunden und Verwandten. Die Rekonstruktion vergangener Alltäglichkeit anhand von Bildern ist eine wichtige Stütze im Familiengedächtnis. Bei Gefken verschwinden jedoch die abgebildeten Personen unter passgenau ausgeschnittenen Pappen. Allein ihre Silhouette bleibt wie ein flüchtiger Schatten erkennbar, auf der skizzenhaft die Physiognomie und die Konturen der Kleidung angedeutet sind. Fototheoretische Überlegungen, die uns spätestens seit Roland Barthes vertraut sind, finden hier eine künstlerische Entsprechung. Der französische Philosoph war davon überzeugt, dass in einem Porträt immer schon das Moment der Vergänglichkeit eingeschrieben ist, fixiert es doch einen kurzen Augenblick, der über den Tod hinaus unveränderlich bleibt. Diesem Gedanken folgend bezeugt das fotografische Abbild nicht die Präsenz, sondern vielmehr die Abwesenheit eines Menschen. Diesen Verlust macht Gefken sichtbar. Mit Übermalungen und Abtrennungen erzeugt er – wie in seinem gesamten Werk – Leerstellen und Freiräume. Auf diese Weise werden die Fotos aus ihrer individuellen Geschichte herausgelöst und ins Allgemeine gekehrt. Und tatsächlich kommen uns die „süßen Erinnerungen“ vertraut vor. Familienbilder entstehen nach stereotypen, sich permanent wiederholenden Mustern. Sie haben einen so hohen Wiedererkennungswert, dass wir uns in ihnen sprichwörtlich zu Hause fühlen. Die Begegnung mit dem Fremden wird letztlich zu einer Begegnung mit unserer eigenen Geschichte. Auf eindringliche Weise zeigt sich hier, wie nachhaltig persönliches Erinnern, Zeitgenossenschaft und kulturelle Prägung ineinander spielen. Diese Zusammenhänge entsprechen in ihren Grundzügen der Idee einer „mémoire collective“ (Maurice Halbwachs), die in den 1990er Jahren von den Kulturwissenschaftlern Jan und Aleida Assmann zu einer Theorie des kollektiven Gedächtnisses ausgeweitet wurde. Vergangenheit steht nach Jan Assmann „nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung“. Erinnerungen auch der persönlichsten Art entstehen demzufolge in der sozialen Interaktion mit anderen. Sie sind immer etwas Gemachtes, etwas, das erst im Rückgriff aus der Gegenwart (re-)konstruiert werden muss. Aus diesem Wissen heraus schafft Gefken Erinnerungsbilder, in denen die vielschichtigen Prozesse des Erinnerns und Vergessens immer schon Bestandteil sind. Das Spannungsfeld von individuellem und kollektivem Gedächtnis wird so zum wesentlichen Antrieb seiner Kunst . Auch in der Malerei arbeitet Tom Gefken nach fotografischen Vorlagen. In ihr verdichtet sich sein künstlerischer Ansatz zu Bildwerken ungewöhnlicher Intensität. Ob Fundstücke, Pressebilder oder private Aufnahmen der Familie, er folgt bei seiner Motivwahl keinen bestimmten Vorlieben. Alles, was ihn innerlich berührt oder als Bild fasziniert, wird Teil seines malerischen Œuvres. Dies können die Regale in einem Supermarkt sein, Tätowierungen, die Luftaufnahme einer Häuserzeile oder sein Sohn, der mit einem Gartenschlauch Wasser verspritzt. Das Private und Öffentliche, das Banale und das emotional aufgeladene Andenken stehen hier gleichberechtigt nebeneinander. So vielfältig wie die diversen Vor-Bilder sind, so unterschiedlich sind auch die malerischen Strategien, die Gefken mit Bravour einsetzt. Auffällig sind Bezugnahmen auf die Ästhetik der Pop-Art. An anderer Stelle werden die Bilder mit einer Art „Weichzeichnereffekt“ überzogen, wie wir ihn von Gerhard Richter kennen. Die großformatige Leinwand Tattoo zeigt beispielsweise eine Bank, wie sie in Amerika für Hinrichtungen verwendet wird. Nur zaghaft und verschwommen entsteht die düstere Situation vor unserem Auge. Das Bild, das sich in unserem kollektiven Gedächtnis längst festgesetzt hat, scheint sich hier unserer Wahrnehmung entziehen zu wollen. Und dennoch lassen sich die Schrecken und Ängste, die sich mit diesem Ort verbinden, unmittelbar nachempfinden. Über das Bild hat Gefken mit wenigen kraftvollen Pinselstrichen die Umrisse einer Frau gemalt. Allein das Tattoo auf dem Arm ist detailreich ausgearbeitet. Was im Hintergrund mit großer malerischer Präzision zur Darstellung gelangt, wird hier durch den Status des Unfertigen konterkariert. Das Bild Kid 1 (2007, Abb. 39) ist wesentlich plakativer und direkter „in Szene gesetzt“. Hier nimmt uns ein kleiner Junge unmittelbar ins Visier. Ein Kinderspiel? Der dramatische Höhepunkt einer Filmszene? Oder das erschütternde Bild aus einem der weltweiten Krisenherde? Auch wenn die beiden Gemälde auf den ersten Blick unterschiedlich erscheinen, liegt ihnen eine innere Konsequenz zu Grunde, die sie zu verschiedenen Aspekten einer größeren Erzählung machen. Politik und Popkultur wirken Tag für Tag auf unser Privatleben ein. Im Falle von Tattoo scheint sich das Weltgeschehen regelrecht in die Haut einzuschreiben. Der vermeintliche Stilbruch wird hier zum Prinzip erhoben. Jedes Bild ist ein neues Wagnis, das sich erst aus einer Annährung an die jeweilige Vorlage entwickelt. Es verwundert daher nicht, dass viele Gemälde über einen langen Zeitraum entstehen. Schicht für Schicht werden sie aufgebaut. Dabei unterliegen sie einem steten Verwandlungsprozess, in dem jedes Mal das/der(?) Moment des Scheiterns einkalkuliert ist. In den letzten Jahren sind vermehrt Objektkästen entstanden. Sie geben dem gesamten Werk eine neue Dimension. Sie funktionieren wie Bildspeicher, in denen Malerei, Gegenstände, alte Tapeten und Fotografien versammelt sind. In gewisser Hinsicht stellen sie einen Kristallisationspunkt dar, in dem sich viele Aspekte des gesamten Œeuvres zu einer Art privater Archäologie zusammenfügen. Der aufmerksame Betrachter ist eingeladen, die präzise kombinierten Objekte miteinander in Beziehung zu setzen. Da ihr Arrangement eine offene semantische Struktur hat, sind assoziativ sprunghafte Zugänge jederzeit möglich. Damit entsprechen sie auf künstlerischer Ebene unseren Erinnerungsmechanismen, die nicht geradlinig, sondern stets unkontrolliert und unbewusst ablaufen. Ninja zeigt beispielsweise die Silhouette von Gefkens Sohn. Umgeben ist er von drei gerahmten Fotos. Auch hier sind – wie so oft – die Köpfe ausgeschnitten oder – wie im Falle des Hochzeitpaares – die Augen ausgestrichen worden. Der lebensgroße Körper in der Mitte wurde orange übermalt und mit einem neuen Augenpaar ausstaffiert. Was immer diese Zeichen für Gefken selbst bedeuten, er macht sie zum Teil seiner Kunst, in die immer wieder Teile seiner eigenen Biografie einfließen. Auf diese Weise entsteht mit den Mitteln der Kunst eine komplexe Erzählung mit offenem Ausgang. Gespannt erwarten wir die nächsten Kapitel. Ingo Clauß, August 2009 |