Fragmente der Erinnerung – Partikelgestöber des Wirklichen.
Zum Werk von Tom Gefken

Carsten Ahrens

 

Ein Pitbull, isoliert auf weißer Fläche, nimmt den Betrachter ins Visier. Eine Pistole wird von einem Jungen frontal auf den Betrachter gerichtet. Eine fallende Figur saust neben dem verschwommenen Szenario eines alltäglichen Wohnblockareals in den Abgrund. Porträts figurieren auf den ornamentalen Feldern der Konvention. Bedeutende Momente des konditionierten Familienlebens fokussieren in pointierten Umrisslinien den Horror genormter Alltäglichkeit. Figuren, die, losgelöst aus ihrer Umgebung, im fragmentarischen Moment das Leben als Wechselspiel zwischen Hoffnung und Verzweiflung beschreiben.

Das künstlerische Werk von Tom Gefken entwirft ein Reich der zeichenhaften Figuration. Auf den assoziativen Schwingen der Erinnerung kreist sein Werk um die geheimnisvolle Frage, auf welchen Wegen sich das, was wir Individualität nennen, herausbildet. Erinnerung spielt in diesem weiten künstlerischen Panorama eine bedeutende, ja entscheidende Rolle; sie war gewissermaßen das Initial am Beginn der künstlerischen Entwicklung Tom Gefkens und ist bis heute der Kern, um den die Werke auf unterschiedlichsten Navigationslinien stetig kreisend sich bewegen.

Blicken wir für einen Moment auf den Beginn zurück. Über Jahre war Tom Gefken in den Arealen privater Erinnerung unterwegs. Neben dem privatimen Fundus des eigenen familiären Gedächtnisses wurde der Künstler auf den Dachböden und in den Kellern, in den Schränken, Koffern, Kisten und Vitrinen aufzulösender Haushalte auf seinen Exkursionen in die Gefilde der Erinnerung seiner Stadt ebenso fündig wie auf Flohmärkten und in antiquarischen Geschäften, in denen jene privaten Erinnerungen enden, die keinen Erben finden. Es waren vornehmlich Fotografien, die berüchtigten Schnappschüsse bedeutender familiärer Ereignisse und Momente, aber auch Objekte, alte Rahmen und Ähnliches, denen die Patina gelebter Geschichte anhaftete, die Gefken im Zuge dieser Recherche zusammentrug. Aus diesem Material fügte sich zusehends sein künstlerisches Vokabular.

Die Kunst der Moderne ist auf den Abraumhalden der industriellen Gesellschaft immer wieder fündig geworden. Die Skulptur des 20. Jahrhunderts beispielsweise verdankt ihre maßgeblichen Entwicklungen dem gefundenen Objekt und dem aufgespürten Fragment, die innerhalb einer zunehmend der ökonomischen Effizienz verpflichteten Alltagswelt ihrer ursprünglichen Aufgaben entledigt waren. Der Schrottplatz, das Sinnbild für das Ausgesonderte, auf dem primären Markt nicht mehr taugliche Objekt, wurde so zum Steinbruch der Imagination der Kunst, aus dem Künstler das Material für die Kunst ihrer Zeit herausschlugen.

Für Tom Gefken wurden die zurückgelassenen Fotografien als Relikte vergangener Lebensgeschichten zu einem solchen Steinbruch. Vornehmlich aus Fotografien der 1940er bis 1970er Jahre schuf er collagierte Bildwerke, Assemblagen, die aus gefundenen Fragmenten bestehen und darüber hinaus vom Künstler bearbeitet wurden. Nicht von ungefähr stand dabei die Zeit der uniformierten Barbarei während des Nazi-Regimes ebenso im Zentrum wie die unmittelbar darauffolgende Zeit des Wiederaufbaus, die gezeichnet war vom ausblendenden Vergessen des Vergangenen. Charakteristisches Zeichen dieser Werke wurde der schwarze Balken, mit dem zumeist die Augen der abgebildeten Personen verhüllt wurden, Signum dafür, dass hier individuelle Geschichte zu einem allgemeinen Zeichen der Zeit verwandelt wurde. Und in der Tat, in unheimlicher Weise gleichen sich die Bilder – die Individuen, die hier doch scheinbar in ihrer ureigenen privaten Sphäre erscheinen, sie wirken wie Muster einer gleichförmig und eindimensional organisierten familiären Szenerie.

Im Zusammenspiel von Malerei und Fotografie werden die Muster unserer Rezeption, insbesondere unser Umgang mit den Erfahrungen des Vergangenen zum thematischen Schwerpunkt. Gefken zeichnet an den blinden Flecken unserer Erinnerung, an der Unmöglichkeit, uns ein Bild anhand von Bildern zu machen, um auf der anderen Seite die Raster der immergleichen Formen, das Uniforme der Erfahrung, die Gleichschaltung des Individuellen deutlich zu machen. Im Zwischenraum dieser Ansätze changieren seine Arbeiten, die Fragen stellen und mögliche Antworten offen lassen. Geheimnisse inszenieren, die unsere Neugier herausfordern. Die Reflexion unseres Blickes schärfen, der Vorsicht im Blick auf Vergangenes Form zu geben.

Die malerische Geste war diesem artistischen Prozess der Genese des Werkes immer schon eingeschrieben. So in der besagten Schwärzung der Augen in Form des berüchtigten schwarzen Balkens, der dem Individuum das erkenntlich Individuelle nimmt, folglich eine Identifizierung störend und gleichsam die Neugier auf die Identifikation des Individuellen beschwörend. Parallel geführt in der Verdeckung der Gesichter mittels farbig gefasster Schablonen, durch die sich konventionelle familiäre Szenen in gespenstische Zusammenkünfte unerkannter Wesen verwandeln. In den präzisen zeichenhaften Eingriffen der malerischen Hand gelingt es Gefken, in den privaten Erinnerungsbildern das erschütternd sich immer wieder Gleichende, das allgemein Gültige und Kollektive im vermeintlich Individuellen herauszustellen.

Seit einigen Jahren schon ist das Rüstzeug des Malers Tom Gefken zur zusehends dominierenden Kraft innerhalb seines Werkes geworden. Die malerische Bravour drängt bestimmend ins Zentrum seiner Arbeit. Malerei ist nun – neben den Assemblagen – zu einer vollkommen eigenständigen Sprache seines Werkes geworden. Und so ist in den vergangenen Jahren neben der collagierenden und installativen Arbeit ein umfangreicher Werkblock entstanden, der allein der Sprache der Malerei vertrauen kann.

Auch in diesen Bildern sehen wir den collagierenden Blick des Künstlers am Werk.
Gefken spielt in seinen Bildern mit unterschiedlichen malerischen Stilformen, und er tut dies mit Bravour. Dem changierenden Farbraum, der im zarten Spiel des claire obscure Figurationen nur als Ahnung, als fragiles Bild flüchtiger Erinnerung aufscheinen lässt, mag sich im nächsten Bild in einen strikten Liniengrund kraftvoll gesetzter Farben verwandeln. Grell und ostentativ gesetzte Pop-Art-Elemente kontrastieren mit lichten Farbräumen, in denen der Sog des Malerischen den Blick in die Tiefe lenkt. Die Dynamik von Gefkens zeichnerischen Setzungen, in deren nervöser Liniatur Bilder erinnerter Momente phantasmagorisch nachzittern, mag sich in einem nächsten Bild als ornamental ziseliertes Netzwerk zeigen, in dessen Gespinst sich der Blick verfängt. Kurzum: Dieser Reichtum des künstlerischen Vokabulars gehört zum Rüstzeug der Malerei Tom Gefkens, die trotz ihrer so unterschiedlichen formalen Strategien eine frappante, gewissermaßen atmosphärische Handschrift entfaltet.

Beide Entwicklungsstränge des Werkes, das Collagierende und das Malerische, entstehen gleichsam parallel, greifen ineinander und werden verzahnt durch große Objektkästen, in denen vorgefundenes Material und malerische Diktion einander balancieren.

Welche Techniken Tom Gefken auch ins Spiel bringt, ihm gelingt die Verdichtung eines Moments der Wirklichkeit, in dem die Bedingungen menschlicher Existenz aufscheinen und spürbar werden. Im Zentrum steht immer das Individuum, seine Geschichte und die Potenziale seiner Zukunft, der Traum von einer anderen Möglichkeitsform. Zeigen die familiären Szenarien die eingrenzenden Rituale, die dem nach Freiheit Drängenden die Luft zu nehmen scheinen, so sind gerade die malerisch dominierten Bilder geprägt von einer figurativen und gestischen Aggression, als wollten sie den Ausbruch aus den Hamsterkäfigen der Konvention beschwören. Beeindruckend ist die atmosphärische Dichte dieser Arbeiten, die aus alltäglichen Motiven den Erfahrungsdruck des Wirklichen ebenso destillieren, wie sie das Hoffnungspanorama einer aus- und aufbrechenden Freiheit mit radikaler Geste ins Bild setzen.

Tom Gefkens Malerei ist in radikaler Weise an der Gegenwart interessiert – und dabei ist mit Blick auf die geheimnisvollen Wege der Individuation die Gegenwart des Vergangenen ebenso präsent und bestimmend wie das Hier und Jetzt des Lebens in unserer Zeit. Wenn in changierend nebelhaften Tönungen der lange Gang zwischen den Regalen eines Supermarktes im Bild zu einer bedrohlich-gespenstischen Allee des gleichgeschalteten Konsums wird, wenn ein isoliert auf der Fläche skizzierter Einkaufswagen zu einem unheimlichen Vehikel mutiert und zu einem beredten Zeichen unserer Zeit wird, dann wird deutlich, wie es hier gelingt, den Blick auf die Realität so im Bild der Malerei zu bannen, dass im Alltäglichen die Dimension der Tiefe, der Raum des Existenziellen, sich eröffnet, um nicht zu sagen – aufbricht. Dass ein Bild der Malerei, mehr über die Wirklichkeit des Lebens auszusagen vermag, als die berühmte Fotografie der Krupp-Werke, das wird hier in Bildern deutlich, die in immer neuen Variationen verdichtete Momente erfahrenen und gesehenen Lebens fassen.

Vilém Flusser, der Exeget des technisch generierten Bildes hat in einer vor diesem Hintergrund überraschenden Einfühlsamkeit über das Geheimnis der Malerei gesprochen. Flusser entfaltet das Bild, dass die Malerei eine Art Schleier, eine Art Fangnetz sei, das der Maler in die Wirklichkeit wirft und an dessen Reusen sich Partikel des Wirklichen verfangen. Es könnte kaum eine bessere Beschreibung für die Operationen geben, die Gefken mit seinen Werken unternimmt. Wir sehen Fragmente des Wirklichen, die mit den Mitteln seiner Malerei in jene Sphäre transponiert werden, in der sie sowohl ihr luzides Geheimnis bewahren als auch in besonderer Weise zu uns zu sprechen und in poetischer Weise zu erzählen beginnen.

Gefken schreibt so mit seiner Kunst auch eine besondere und andere Art der Geschichte, d. h. er zeigt die schreckliche immerwährende Gleichheit menschlicher Zusammenhänge, die unerträgliche Konventionalität des Lebens jenseits, oder auch unterhalb der bahnbrechenden Großereignisse im steten Lauf der Dinge. Sein Werk radiert so – im Blick auf die immer sich neu findende Individualität – an einer Idee des Fortschritts, die unsere Zeit weiterhin dominiert. Denn jenseits allen Fortschritts steht der einzelne Mensch immer wieder vor denselben alten Fragen, wie der Maler immer aufs Neue vor der Leere der weißen Leinwand steht – vor den immergleichen Fragen der menschlichen Existenz, also in den Gezeiten von Leben und Tod, Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Einsamkeit. Dass die Malerei im tiefen Sinne kein Medium des Fortschritts ist, sondern an die Konditionen menschlicher Existenz gebunden ist, davon erzählt das Werk Tom Gefkens in der überbordenden Vielfalt seiner Formen und Formationen in einem großen Gesang, der wie ein ,Fluss ohne Ufer‘ anmutet.

Der Künstler scheint dabei auf genau jenen utopischen Fluchtpunkt zu zielen, den Georg Simmel als „Wunder der Kunst“ beschrieben hat: „So gehört dies überhaupt zu dem unbegreiflich Höchsten aller Kunst, dass sie die Wertreihen, die im Leben gleichgültig, fremd oder feindlich auseinander liegen, wie in selbstverständlicher Einheit zusammenführt… und uns damit eine Ahnung und ein Pfand gibt, dass die Elemente des Lebens doch wohl in ihrem letzten Grunde nicht so heillos gleichgültig und beziehungslos nebeneinander liegen wie das Leben selbst es glauben machen will.“